Die Weissmeerkarelischen Dörfer

Die Grenze zwischen den zwei Völkern, dem von Kainuu und dem von Weissmeerkarelien, ist gleichzeitig die Staatsgrenze. Eine interessante Ausnahme von dieser Regel sind kleinen in der südwestlichen Ecke von Suomussalmi liegenden Dörfer Kuivajärvi und Hietajärvi, in denen es schon seit dem 18. Jahrhundert weissmeerkarelische Ansiedlungen gibt sowie das Dorf Rimmi in Kuhmo, das seit gut Hundert Jahren von Weissmeerkarelierern bewohnt wird. Was hat die Menschen dazu bewegt hierher zu kommen und wo sie herkamen?

Weil wir wissen, dass dieses Gebiet das Zuhause für die Familie Huovinen wurde, und dass die Bedeutung der Familie für die Geschichte des Liedersammelns groß ist, wollen wir die Geschichte der Familie und die Lebensweise der Dörfer nachvollziehen. Allerdings nähern wir uns dem Gebiet über den Umweg aus dem Osten mit den sog. Taschenhändlern(weissmeerkarelische hausierende Händler, die ihre Ware in Taschen oder Rucksäcken trugen).

Diese Händler waren die Kulturboten dieser Epoche. Im Herbst machten sie sich auf die Reise nach Schweden-Finnland und im Frühling kehrten sie den Zugvögeln gleich nach Hause und zu ihren Arbeitsstätten zurück. Als Mitbringsel brachten sie vielfältiges Wissen mit.

 

Die Dörfer und Kalevala

Im Jahre 1831 bekamen zwei Händler aus Akonlahti eine Einladung nach Pietarsaari, in das Haus des Bezirksarztes Sakari Topelius. Topelius interessierte sich für alte Lieder, die er gesammelt und auch veröffentlicht hatte. Nach dem er die Männer von Akonlahti singen ließ, schrieb Topelius: “Eine einzige Gegend auf der Welt, sogar außerhalb Finnlands oder ein paar Gemeinden im Bezirk Archangelsk, besonders hervorzuheben die Gemeinde Vuokkiniemi, bewahren die alten Sitten und die Erzählungen des Mannvolkes wahr und rein. Dort singt noch die Stimme des Väinämöinen (Hauptfigur der finnischen, besonders der karelischen Volksdichtung und der Kalevalasaga), dort klingt noch Kantele (ein Zupfinstrument) und Sampo (Ritualgesang).” Das gab dem Liedersammeln einen starken Anstoß.

Die Reisen der Liedersammler richteten sich immer mehr nach Weissmeerkarelien. Es wurde so viel Volksdichtung gesammelt, dass der Liedersammler und Sprachforscher Elias Lönnrot meinte, man hätte aus dem Material sieben Kalevala zusammenstellen können und alle wären verschieden gewesen. Bemerkenswerteste der elf Reisen des Elias Lönnrot war seine fünfte Reise im Jahre 1834. Da traf er in Latvajärvi den Dichterkönig Arhippa Perttunen, der 6000 Verse vom einem alten Lied sang, u.a. einen sehr guten und vollkommenen Sampo- Abschnitt. Nach seiner Reise fing Lönnrot mit der Zusammenstellung von Kalevala (finnisches Nationalepos) an, die ein Jahr später, d.h. im Jahre 1835, herausgegeben wurde. Die neue Kalevala erschien 1849.

Der erste Liedersammler, der einen Abstecher auf die finnische Seite, in das Hietajärvi-Haus, machte, war Daniel Europaeus im Jahre 1846. Über diesen Besuch erzählt er in seinem Reisebericht folgendes: “Da war eine Greisin, die ich wohl mit Mühe und Not zum Singen brachte, von der aber ein Wort mehr als “zig von den anderen kostete.” Aus diesem Gesang bekam Europaeus nämlich eine interessante Information: Pohjolan isäntä (der Herr des Nordens), den Lemminkäinen (eine der Haupthelden des Epos, flatterhafter Frauenheld) auf der Hochzeit des Nordens tötete, war Joukahainen. Das 30. Lied des alten Kalevala-Epos, das von dem noch lebenden Joukahainen erzählt, war also am falschen Platz.

Europaeus schlug Lönnrot das ändern der Liederfolge vor, und Lönnrot tat es dann auch. “Das Lied des Gesangswettbewerbs” (Wettbewerb darüber, wer die meisten Lieder kennt) wurde als zweites Lied in das neue Kalevala platziert.

Diese Greisin von Hietajärvi, die von Latvajärvi stammende Toarie, war die Stammutter der Liedersängerfamilie Huovinen. Sie war eine tüchtige und fähige Seherin und Heilerin. Ein Teil von ihren Liedern ist vorlorengegangen, aber das Wichtigste blieb erhalten: Das Lied von Lemminkäinen.

 

Über die Besiedlung und das Leben in den Dörfern

Hietajärvi kommt in Jahre 1650 in einer Allgemeinkarte von Kainuu vor. Im Jahre 1827 erscheint bereits das Haus Ahtola an dem Seeufer. Nach der Überlieferung hieß der Herr des Hauses Aliipei Ahtonen der vor der Einberufung in die Armee oder vor religiöser Verfolgung aus Koivuniemi von Tunkua auf die finnische Seite floh. Er beschäftigte einen Knecht, den von Suikujärvi entflohenen “piekloi” (Flüchtling) Tomenttei Sikov. Um seine Spuren zu beseitigen änderte der Flüchtling seinen Namen auf Lari Huovinen. Lari heiratete die in dem selben Haus dienende Toarie. Nach einem Jahr bekam das Paar eine Kuh und zog an das Ufer des Kuivajärvi-Sees. Der Fleiß der Familie war unvergleichlich: die Äcker nahmen zu, das Vieh wurdemehr und die Anzahl der Familienmitglieder betrug zu den besten Zeiten über zwanzig.

Als Finnland 1808 Russland eingegliedert wurde, hätte Lari mit seiner Familie in seine Heimat zurückkehren können, er blieb aber an den Ufern des ihm schon so liebgewordenen Kuivajärvi-Sees. Seine Söhne Lari und Iivana besiedelten Kuivajärvi, aber sein dritter Sohn Timo kaufte das Haus Ahtola für 300 Rubel und zog nach Hietajärvi. Die bereits verwitwete Toarie folgte ihrem Sohn um dort die Enkelkinder zu hüten. Als Toarie im Winter 1861 starb, war sie 101 Jahre alt.

Kuivajärvi und Hietajärvi waren bis in die dreißiger Jahre vom anderen Suomussalmi isoliert. Bis nach Saarivaara waren es auf dem Waldpfad gute zwanzig Kilometer. Der Straßenbau erreichte seinen Höhepunkt bei dem Brückenfest im August 1933 in Kuivajärvi. Die Straße nach Hietajärvi wurde erst 1956 fertiggestellt.

Bis zum Winterkrieg war der Baustil in Kuivajärvi und Hietajärvi karelisch. Die Häuser waren klein, wobei die Heizöfen mit einem Schornstein ausgerüstet waren. Die Saunas hatten keine Rauchabzüge. Aus diesem Grund waren die Saunas innen schwarz. Die Gebäude wurden am Ende des Winterkrieges, in Februar 1940, als die finnischen Grenzschützer die kleinen grauen Dörfer verbrannten, zerstört. Nach dem Krieg wurde nicht mehr in dem karelischen Stil gebaut. Es gibt nur noch zwei Gebäude im Dorf, die den alten Baustil repräsentieren. An dem Ufer der schmalen Wasserstraße, die die Kuivajärvi-Seen verbindet, gibt es die Tsasouna des Heiligen Nikolaos (orthod. Gebetskapelle). Sie wurde im Jahre 1958 fertiggestellt und ist die dritte in diesem Gebiet. Das zweite Gebäude im karelischen Stil ist Domnan Pirtti von 1964 auf dem anderen Ufer der Wasserstraße.

 

Die Proasnikka-Tradition

Im Anfang der Siebziger fing man in Kuivajärvi mit einer starken
Wiederbelebungsaktivität der Proasnikka-Tradition an. Die Tradition festigte sich erst 1977 zu einem jährlich wiederkehrenden Fest des Kareliertums und vor allem des Weissmeerkareliertums. Das Fest ist vorrangig von der Gemeinde Suomussalmi und den Dorfbewohnern organisiert worden, wobei die orthodoxe Gemeinde für die kirchlichen Ereignisse verantwortlich gewesen ist. Domnan Pirtti, Tsasouna sowie die Schule, wo vor einigen Jahren der Schulbetrieb eingestellt wurde, und aus der die orthodoxe Gemeinde ein funktionierendes Übernachtungszentrum gemacht hat, sind die Zentren der Festivitäten gewesen. Die Festivitäten finden um Mitte Juli statt.

Ein wichtiger Mann der Proasnikka und der weissmeerkarelischen Tradition ist Jussi Huovinen aus Hietajärvi. Außer den alten Melodien, trägt er neue Lieder, die er selbst geschaffen hat, vor. Er begleitet sich dabei mit einer fünfsaitigen Kantele, die er selbst gebaut hat. Jussi Huovinen hat auch Grabdenkmäler gebaut. U.a. das neue Friedshofstor ist von ihm. Durch seinen Widerstand gegen den Kahlschlag und den Straßenbau in Murhinsalo ist Jussi auch berühmt geworden. Die wichtigsten Ereignisse der neuartigen Proasnikka-Feste sind die Auftritte der Forscher, Wissenschaftler und Künstler gewesen. Man hat dem Fest auch verschiedene Ausstellungen und “Kyykkä-Wettbewerbe” beigefügt. Der Anteil der Kirche bei dem zweitätigen Proasnikka mit ihrer Kreuzprozession und Wasserweihe war bemerkenswert.

Suomussalmi